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Lichtblick Nr. 9 (November 2004)

Die Bedeutung von Ein Kurs in Wundern als spirituellem Weg

Kenneth Wapnick

Im Jahre 1999 wurde ich neben anderen Autoren gebeten, für einen Artikel in der Millenniumsausgabe einer Zeitschrift die drei weiter unten aufgeführten Fragen zu beantworten. In meinen Antworten stellte ich die Bedeutung von Ein Kurs in Wundern als spirituellem Weg heraus, der zurück auf das bahnbrechende Werk Sigmund Freuds, des Begründers der Psychoanalyse, verweist und in die Zukunft auf das jetzt begonnene 21. und vielleicht weitere zukünftige Jahrhunderte. Der Artikel wurde für diesen Rundbrief erweitert und wird unten wiedergegeben als Teil einer Diskussion über die Bedeutung des Kurses zur Erlangung dessen, was in den Fragen als Erleuchtung bezeichnet wird.

Unter den spirituellen und religiösen Denksystemen ist der Kurs einzigartig in seiner beinahe schonungslosen Betonung der Notwendigkeit, das Egodenksystem anzuschauen; dies ist die Voraussetzung dafür, den Heiligen Geist als Alternative wählen und uns an unsere Beziehung zu Gott erinnern zu können. Diese Betonung ist umso bemerkenswerter, als sie im Rahmen eines inhärent nichtdualistischen Denksystems steht. Anders ausgedrückt: Einerseits lehrt der Kurs, dass das wahrnehmbare Universum eine Illusion ist. Andererseits liegt der Schwerpunkt seiner Lehre immer darauf, uns dazu anzuleiten, das illusionäre Denksystem anzuschauen, das wir wahr gemacht haben. Nur so können wir über es hinausgehen und zur nichtdualistischen Wahrheit kommen.

Angesichts dieser Betonung, das Ego oder das falsche Selbst anzuschauen, habe ich in den vielen Jahren, in denen ich den Kurs lehre, oft davon gesprochen, dass er sehr stark auf dem Frühwerk von Freud beruht, und zwar so stark, dass der Kurs ohne Freud tatsächlich nicht vorstellbar wäre. Eine sorgfältige und psychologisch anspruchsvolle Lektüre dessen, was im Kurs über das Ego – das Äquivalent zu Freuds Begriff der Psyche – gesagt wird, offenbart, wie viel der Kurs dem umfassenden psychoanalytischen Gebäude verdankt, das Freud geschaffen hat. Dieses Gebäude ist die unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis dessen, wie und warum Individuen (und daher auch Gruppen) in der Welt so handeln, wie sie es tun. Doch wie brillant Freuds Entdeckungen und Formulierungen auch sein mögen, einem Menschen auf dem spirituellen Weg, der auch nur ein flüchtiger Leser von Freuds monumentalem Werk ist, wäre ebenso klar, dass die Psychoanalyse nicht über das Ego hinaus zur Wahrheit unserer Wirklichkeit als reiner Geist führt. So bleibt es dem Kurs vorbehalten, das zur Verfügung zu stellen, was dem Freudschen System fehlt: den Ausweg aus dem wahnsinnigen und bösartigen Denksystem des Ego.

In meinen Antworten auf die drei Fragen äußert sich also dieses Verständnis von Freuds Werk als einer der Grundlagen der Lehren des Kurses über die Vergebung – Lehren, die den Heilungsprozess vervollständigen, den Freud in Gang setzte. Hier die Fragen und meine Antworten, gefolgt von weiteren Anmerkungen zum Thema.

Frage 1: Welches oder welche Ereignisse des 20. Jahrhunderts trugen entscheidend dazu bei, dass die Welt Fortschritte zu einer größeren Erleuchtung – einer stärkeren kollektiven Beziehung zum Göttlichen – machte? Aus welchem Grund war das Ereignis bedeutsam?

Meiner Meinung nach gibt es zwei größere und eng miteinander verknüpfte Ereignisse – das eine zu Anfang, das andere gegen Ende des 20. Jahrhunderts –, die zu den wichtigsten Beiträgen gehören, die die Welt für das Erwachen des Homo sapiens zu seiner wahren Beziehung zu seinem Schöpfer und seiner Quelle geleistet hat. Das erste sind Sigmund Freuds Traumdeutung die im Jahre 1900 erschien, und seine anschließenden Arbeiten. Mehr als jeder andere legte Freud das höchst unerfreuliche Wesen des Unbewussten – die »dunkle Seite« – bloß und zeigte, wie – individuell und kollektiv – die vergrabenen Gedanken und Konflikte unsere bewussten Erfahrungen von Hass, Bösartigkeit und Schuld direkt und indirekt beeinflussen. Das zweite Ereignis ist Ein Kurs in Wundern, der 1976 herauskam und Freuds Werk, das dunkle Doppelspiel unseres Lebens aufzudecken, fortführte. Gleichzeitig vervollständigte der Kurs Freuds unvollständiges Bild der Psyche, indem er zeigte, dass unsere Entscheidung, uns mit dem Denksystem von Sünde, Schuld, Angst und Angriff zu identifizieren, eine Abwehr gegen die Entscheidung für das Denksystem des Heiligen Geistes von Vergebung, Heilung und Frieden ist. Auf diese Weise stellt uns der Kurs, auf dem psychoanalytischen Denkgebäude gründend, ein spirituelles Werkzeug zur Verfügung, welches das Ego (oder das falsche Selbst) nicht verleugnet, sondern es vielmehr aufdeckt, damit wir mit offenen Augen auf seinen Wahnsinn schauen können, um endlich die richtige Wahl zu treffen und über das Ego hinaus zur Erinnerung an unsere wahre Identität als Christus, der eins mit seiner Quelle ist, zu gelangen.

Frage 2: Welches Ereignis oder welche Ereignisse des 20. Jahrhunderts haben entscheidend zu einem Stillstand oder Niedergang der Erleuchtung beigetragen und warum?

Besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich in fast allen religiösen und psychologischen Lehren der Welt eine Entwicklung breit gemacht, die darin besteht, die Hässlichkeit des Denksystems der Welt zu verleugnen und es durch ein rosafarbenes Bild scheinbarer Spiritualität zu ersetzen. Diese Bewegung hat verhindert, dass die wichtigen und notwendigen ersten Schritte unternommen werden, um uns mit dem unbewussten Denksystem von Schuld und Hass zu konfrontieren, das in Wahrheit unser Leben motiviert. Das war außerordentlich schädlich, denn es hat die Verleugnung des zugrunde liegenden Problems begünstigt und an die Stelle der wahren Antwort eine Illusion von Spiritualität gesetzt, die den Geist in der trügerischen Sicherheit falschen Friedens und Glücks einlullt. Währenddessen wuchern Angst, Schuld und Hass im Unbewussten stumm weiter, bis sie sowohl persönlich als auch kollektiv in Flächenbränden explodieren. Dadurch wird das Auftreten einer authentischen Spiritualität, die die Störungen von der »dunklen Seite« her aufhebt, noch mehr verhindert – ein Aufheben, ohne das das Erreichen wahrer Erleuchtung unmöglich ist.

Frage 3: Was muss Ihrer Meinung nach in den ersten Jahrzehnten des 21.  Jahrhunderts geschehen, wenn das spirituelle Bewusstsein stärker werden soll? Was wird Ihrer Ansicht nach in dieser Hinsicht geschehen?

Was geschehen muss, ist, dass Einzelne genauer und wachsamer in ihren Geist schauen und sich auf das Aufdecken des Negativen und seine Aufhebung konzentrieren, statt auf das leichtere Akzeptieren des Positiven. Nur auf diese Weise kann wahrer Frieden entstehen, innen wie außen. Es ist das Aufheben der Dunkelheit, von der wir glauben, dass sie in uns ist, das es dem Licht der Wahrheit und Liebe Gottes erlaubt, es selbst zu sein, um sich froh im Geist der gesamten Schöpfung auszudehnen. Ich bin jedoch nicht optimistisch. Die Angst vor einer solchen Konfrontation mit dem Unbewussten hat dazu geführt, dass sich die Pseudospiritualität fest als »die wahre Sache« etabliert hat, womit einfach nur das Denksystem von Verleugnung und Projektion verstärkt wurde. Ich glaube daher, dass noch einige Zeit vergehen muss, bevor die spirituellen Einsichten, die implizit in Freud und explizit in Ein Kurs in Wundern enthalten sind, im Geist und Herzen von uns allen erblühen können.

Im Folgenden möchte ich die Punkte, die in den drei Fragen und Antworten angeschnitten wurden, weiter vertiefen. In ihnen drücken sich im Wesentlichen drei Themen aus:

• Der spezielle Beitrag Freuds und des Kurses im Hinblick darauf, das Ego anzuschauen.
• Der Widerstand, das Ego anzuschauen.
• Die Zukunft der Beiträge Freuds und des Kurses angesichts dieses Widerstands.

1. Das Ego anschauen

Die »dunkle Seite« der Menschheit ist für Beobachter unserer Spezies zweifellos nie ein Geheimnis gewesen. In der westlichen Welt drückt sie sich beispielsweise in den Texten Homers und der Bibel aus, ganz zu schweigen von der Philosophie Platons, um nur drei Quellen aus der Antike zu nennen. Und Freuds unmittelbare philosophische Vorläufer in Deutschland, Schopenhauer und Nietzsche, waren beide überaus vertraut mit der brodelnden Masse an unbewusstem Gift, das durch die psychologischen Adern des Homo sapiens fließt. Gleichzeitig versuchte die Welt jedoch, dieses erbarmungslose Meer der Schwierigkeiten abzuspalten in der Vogel-Strauß-Hoffnung, das Problem würde magisch verschwinden, wenn man es nicht sähe. Freud schaufelte dieser naiven Illusion endgültig das Grab, indem er erklärte, dass und warum das Unbewusste nicht einfach verschwindet, sondern sein hässliches Haupt bei jeder Gelegenheit wieder hebt. Es folgen einige charakteristische Stellen aus Freuds Werk, die diese innere und nach oben drängende Tendenz der Inhalte des Unbewussten zum Ausdruck bringen, sodass sie sich im Bewusstsein und im Verhalten ausdrücken, der Psychodynamik, die man Projektion nennt:

Aber im Unbewussten besteht die verdrängte Wunschregung weiter, lauert auf eine Gelegenheit, aktiviert zu werden (Ges. Werke Bd. 8, S. 25) und [durchbricht] darum an den schwachen Stellen des Baues den Damm (ebd., S. 298). Ungebändigt und unzerstörbar … bilden diese der Verdrängung verfallenen Triebe … die seelische Unterwelt, den Kern des eigentlich Unbewussten, stets bereit, ihre Ansprüche geltend zu machen und auf jedem Umweg zur Befriedigung vorzudringen (Bd. 12, S. 236). [Das Unbewusste] hat einen natürlichen »Auftrieb«, es verlangt nichts so sehr, als über die ihm gesetzten Grenzen ins Ich und bis ins Bewusstsein vorzudringen (Bd. 17, S. 104 f.).

Obwohl er ein Meister der Motivationstheorie war, erkannte Freud dennoch nicht die wichtigste aller unbewussten Motivationen: den Wunsch, nicht so zu bleiben, wie Gott uns schuf. Es ist diese Motivation, ein getrenntes und ausgeprägtes Individuum zu sein, statt der eine Sohn im Geist, die die letztliche Quelle unseres Schmerzes und den Ursprung der gesamten Psychodynamik bildet, die Freud so akribisch erforschte und in Kategorien einteilte. Anders ausgedrückt, lehrt uns Jesus im Kurs, dass diese fortlaufende Entscheidung für die Trennung – von Gott und damit von unseren Brüdern und Schwestern – die Ursache unserer Schuld bildet, und es ist diese Schuld, die alle Probleme in der Welt erzeugt und aufrechterhält, individuell wie kollektiv. Sobald die Schuld in Form der Beschuldigung anderer nach außen projiziert wird, sind wir imstande zu sehen, was wir zuvor verdrängt haben. Auf diese Weise können wir die Schuld einer neuen Untersuchung eröffnen und sie schließlich loslassen. Die Essenz dieses Prozesses wird im Kurs Vergebung genannt. Doch solange wir die dunkle Seite unserer Psyche nicht erkennen, mangelt es uns an Motivation für wahre Vergebung.

Für das Ego ist sich selbst anschauen kaum damit gleichzusetzen, »im Sommer einen ruhigen Weg entlang getragen« (T-14.IV.6:2) zu werden, sondern wird fast immer als schmerzhaft erlebt:

Das Denksystem des Ego zu untergraben muss als schmerzhaft wahrgenommen werden, obwohl das alles andere als wahr ist. Ein kleines Kind schreit vor Wut, wenn du ihm ein Messer oder eine Schere wegnimmst, obwohl es sich wohl schaden könnte, wenn du es nicht tätest (T-4.II.5:1-2).

Doch genau diesen Schmerz kann Jesus nutzen, um uns am Ende zu motivieren, den Weg zu wählen, der uns über allen Schmerz hinausführt:

Die Leidensfähigkeit mag groß sein, sie ist aber nicht grenzenlos. Schließlich beginnt ein jeder zu begreifen – wie undeutlich auch immer –, dass es einen besseren Weg eben muss. Sowie diese Einsicht mehr Boden gewinnt, wird sie zu einem Wendepunkt (T-2.III.3:5-6).

Von der Zeit Freuds an war es der Welt nicht länger möglich, die Existenz der unsichtbaren oder unbewussten Kräfte zu verleugnen, die unsere Welt kontrollieren und unsere Handlungen dominieren. Das heißt natürlich nicht, dass der Versuch, sie zu verleugnen, nicht immer wieder unternommen worden wäre, was uns zum zweiten Punkt führt.

2. Widerstand

Während ich nicht bestreite, dass Freud von vielen persönlichen (sprich Ego-) Motiven bei der Kritik an seinen ersten Schülern geleitet wurde, die seinen Theorien widersprachen und ihn später verließen, um ihre eigenen Schulen zu gründen, zieht sich doch ein roter Faden durch seine Kritik. Dieser hat zumindest aus der Sicht des Kurses der Prüfung der Zeit standgehalten und ist heute noch ebenso gültig und aktuell. In seiner standhaften Verteidigung dessen, was er die Sexualtheorie nannte, versuchte Freud in Wirklichkeit, seine Entdeckungen von der unerfreulichen Seite der menschlichen Natur gegen ein Ablehnen und Verleugnen zu schützen. Er wusste, dass er den »Verbrecher« gefasst hatte, der in den verborgenen Abgründen unserer Psyche lauert, und dass man ihn vor »das Gericht« des psychoanalytischen Prozesses stellen musste, der die unbewusste Dunkelheit zum bewussten Licht der Selbsterforschung bringt. Sonst würde er frei sein, sein Unwesen der brutalen und bösartigen Irrationalität gegen die einzelnen Menschen und ihre Welt weiterzutreiben. Für einen schockierten und desillusionierten Freud legte der Erste Weltkrieg ein trauriges Zeugnis der tragischen kollektiven Wirkungen ab, die die Folge waren, wenn dieser Verbrecher nicht richtig gefasst wurde. Und obwohl ich nicht weiß, ob er das Konzept des Widerstands speziell auf seine »untreuen« Schüler anwandte, lässt es sich zweifellos auf den allgemeineren Versuch anwenden, die sehr wirkliche Anwesenheit dieses »Schurken« in unserem Geist zu verleugnen. Vom ganzen vergangenen Jahrhundert bis in das gegenwärtige hinein kann man in der Tat ein gleichsam sorgfältig geplantes Programm erkennen, die Bedeutung des Unbewussten herunterzuspielen, ganz zu schweigen von einer Abwertung des Freudschen Werkes selbst. Solche Angriffe hätten den großen Mann sicherlich enttäuscht, aber wohl kaum verwundert, wenn man das Verständnis bedenkt, das er von der Dynamik des Widerstands besaß, mit dem man sich dagegen wehrt, die dunklen Inhalte unseres unterirdischen Lebens anzuschauen.

In der kurzen Zeit seit der Veröffentlichung des Kurses ist dieser Versuch, sich nicht mit dem Ego auseinander zu setzen, unglücklicherweise auch mit diesem Werk fortgesetzt worden, oft unter dem Deckmantel, man wolle der Illusion des Bösen, der Dunkelheit und Sünde keine Macht verleihen und sich lieber nur auf das Licht, den Frieden und die Freude konzentrieren, die in uns weilen (Ü-I.93). Es ist traurig zu beobachten, dass ein spiritueller Text, dessen Ziel es ist, die ans Licht gebrachte Schuld durch unsere Vergebung aufzuheben – analog zum Schicksal von Freuds Werk –, schließlich als Abwehr gegen ebendiesen Heilungsprozess verwendet wird. Freuds Konzept des Widerstands hilft zu erklären, warum Instrumente des Heiligen Geistes (in diesem Zusammenhang meine ich speziell Freuds Arbeit und den Kurs) so leicht von denen verworfen werden können, denen sie helfen wollen. Der angstvolle Gedanke, über unsere individuelle und besondere Existenz hinausgehen zu müssen zum Einssein Christi, unserer wahren Identität, in der keine Unterscheidung existiert, ist zu überwältigend, als dass wir ihn kampflos akzeptieren könnten. Deshalb bezeichnet Jesus im Kurs die Vergebung als einen Prozess.

Wenn das Mittel, zu unserer Wirklichkeit des Einsseins zu erwachen, Vergebung oder das Aufgeben des Urteilens ist, dann ist klar, dass wir, solange wir das Ziel nicht wollen, auch die Mittel scheuen werden, die uns helfen, es zu erreichen. Darüber hinaus beinhaltet Vergebung – um diesen wichtigen Punkt noch einmal zu nennen – die Notwendigkeit, uns die Dunkelheit unserer unbewussten Ängste und unseres Hasses anzuschauen:

Du fragst dich vielleicht, warum es so entscheidend ist, dass du dir deinen Hass ansiehst und dir sein volles Ausmaß klar machst. Auch denkst du vielleicht, dass es für den Heiligen Geist leicht genug wäre, ihn dir zu zeigen und ihn aufzulösen, ohne dass es nötig wäre, dass du ihn dir selber ins Bewusstsein hebst (T-13.III.1:1-2; Kursive vom Autor).

Hab keine Angst davor, dir die besondere Hassbeziehung anzusehen, denn Freiheit liegt darin, sie anzuschauen (T-16.IV.1:1;Kursive vom Autor).

Am Ende des ersten Jahres der Niederschrift von Ein Kurs in Wundern gab Jesus Helen Schucman und William Thetford die folgende Botschaft, mit der er versuchte, ihren Widerstand dagegen abzubauen, sich den Hass anzuschauen, der die Liebe verbarg, die sie miteinander verband:

Ihr habt keine Ahnung von der Intensität eures Wunsches, einander loszuwerden. Das bedeutet nicht, dass ihr nicht stark zueinander hingezogen wärt, doch bedeutet es, dass die Liebe nicht das einzige Gefühl ist … Ihr bemerkt nicht, wie sehr ihr einander hasst. Ihr werdet den Hass erst loswerden, wenn ihr ihn bemerkt … Es ist unbestreitbar, dass ihr einander hasst und fürchtet, und eure Liebe, die sehr wirklich ist, wird davon total verdeckt … Schaut, so ruhig ihr könnt, auf den Hass, denn wenn wir die Verleugnung der Wahrheit leugnen wollen [eine Anspielung auf T-12.II.1:5], müssen wir erst sehen, was wir verleugnen (Kenneth Wapnick, Jenseits der Glückseligkeit, Greuthof Verlag, 1999, S.  339 f.).

Unser Widerstand dagegen, uns diesen Hass anzuschauen, der im Zentrum unserer Identität als getrennte schuldgeborene Geschöpfe steht, wird durch den konstanten Refrain des Ego verstärkt »Schau nicht nach innen«, der den Kern des Widerstands bildet:

Laut sagt das Ego dir: Schau nicht nach innen, denn tust du das, so wird dein Auge auf die Sünde fallen, und Gott wird dich mit Blindheit schlagen (T-21.IV.2:3).

Und um unseren illusionären Traum der Individualität zu schützen, entscheiden wir uns einfach dafür, ebendie Mittel, die wir haben, um aus dem Alptraum von Schuld und Hass zu erwachen, nicht zu benutzen. So werden Freuds Werk und der Kurs schließlich als Bedrohung wahrgenommen, die vermieden, angegriffen oder verzerrt werden müssen – und das alles, um das Ego zu erhalten und es vor den heilenden Wirkungen des Prozesses zu schützen, seine »geheimen Sünden und versteckten Hassgefühle« anzuschauen (T-31.VIII.9:2).

3. Die Zukunft

Meine wenig optimistische Sicht einer zukünftigen Akzeptanz des bei Freud und im Kurs betonten Prozesses, sich das Ego anzuschauen als Mittel, um »Erleuchtung« zu erlangen, gründet auf dem Konzept des Widerstands, das wir oben erörtert haben. Eine der heimtückischeren Ego-Formen des Widerstands (d. h. der Abwehrmechanismen) kommt in der Verkleidung der Spiritualität daher. Welch bessere Methode gäbe es, die individuelle Identität des Ego zu erhalten, als sie in den Mantel höchster Ehrbarkeit zu kleiden: der Religion und Spiritualität. Sobald Menschen auf dem spirituellen Weg glauben, die Wahrheit gefunden zu haben, hören sie auf zu suchen. Und wenn das, was sie gefunden haben, nichts weiter als ein Versteck für das Denksystem des Urteils und der Besonderheit ist, dann lebt das Ego glücklich und verstohlen weiter. Wir alle haben das Ausmaß und die tragischen Konsequenzen solcher Abwehrmechanismen (T-3.I.2:3) im Hass der Religionen und der Kriege erlebt, die in den letzten Jahrhunderten ausgefochten wurden, ganz zu schweigen von dem aktuellen Konflikt, der zwar noch jung an Jahren, aber nicht klein an Gewalt ist. Verdrängung führt zu Projektion, und die Dunkelheit des Ego, die nicht dem vergebenden Licht der Wahrheit überbracht wird, hat keine andere Möglichkeit, als die Außenwelt in die Schatten zu hüllen, die aus dieser inneren Hölle von Angst und Hass aufsteigen – der natürliche »Auftrieb«, von dem Freud in der weiter oben zitierten Stelle gesprochen hat.

So fallen sogar die Werkzeuge selbst, um die Dunkelheit dem Licht auszusetzen, der Angst vor diesem Ausgesetztwerden zum Opfer. Und in einer Welt, die immer müder geworden ist, erschöpft durch die Hoffnungslosigkeit des Hasses (H-1.4:4-5), muss die Wahrheit beiseite treten und geduldig darauf warten, dass die Angst nachlässt. Glücklicherweise besteht unsere einzige Verantwortung darin, nicht die Welt zu verändern noch sie von ihrer Angst zu heilen, sondern einfach nur die Sühne für uns selbst anzunehmen (T-2.V.5:1). Wir leisten unseren Beitrag, indem wir um Hilfe bitten, uns unseren Hass auf uns selbst und daher auf andere zu vergeben, im Vertrauen, dass die Liebe des Heiligen Geistes unsere Gedanken, Worte und Taten lenken wird:

Und wenn ich ein Wort brauche, das mir helfen soll, so wird er es mir geben. Wenn ich einen Gedanken brauche, wird er ihn mir auch geben. Und wenn ich nur Stille und einen ruhigen, offenen Geist brauche, sind das die Gaben, die ich von ihm empfangen werde (Ü-II.361-365.1:1-3).

Dankbar erkennen wir endlich, dass es nicht unsere Verantwortung oder Sorge ist, wie sich diese Liebe ausdrückt noch wie sie in der Welt wirksam wird.

Ausdehnung der Vergebung ist die Funktion des Heiligen Geistes. Überlass das ihm. Lass deine Sorge nur sein, ihm das zu geben, was ausgedehnt werden kann … Er wird eine jede [unserer winzigen Gaben] nehmen und daraus eine mächtige Kraft für den Frieden machen (T-22.VI.9:2-4,6).

So liegt weder unsere Hoffnung noch Verzweiflung in der Welt, sondern allein in unserem Geist, dem Sitz der Entscheidung für Schuld oder Vergebung, Konflikt oder Frieden, für das Ego oder den Heiligen Geist.

Schließlich – und das ist vielleicht am wichtigsten – wird der Kurs nicht durch Worte oder Taten gelehrt, sondern durch das Beispiel (T-5.IV.5:1). Wir geben Beispiel für die sanfte Wahrheit dessen, was wir lernen, indem wir die sanfte Geduld demonstrieren, die den Unterschied zwischen der Hoffnung der Wahrheit und der Hoffnungslosigkeit der Illusion kennt: zwischen der wahren Hoffnung, die in der Fähigkeit des Geistes liegt, sich von der Dunkelheit zum Licht zu wandeln, und der Hoffnungslosigkeit der magischen Versuche, die Dunkelheit einer illusionären Welt zu verändern, ohne ihre verdunkelte Quelle im Geist aufzudecken:

Diejenigen, die sich des Ausgangs gewiss sind, können es sich erlauben zu warten, und ohne Ängstlichkeit zu warten. Geduld ist für den Lehrer Gottes natürlich. Alles, was er sieht, ist der sichere Ausgang zu einer Zeit, die ihm vielleicht noch unbekannt ist, die aber nicht in Zweifel steht … Geduld ist natürlich für die, die vertrauen. Da sie sich der letzten Deutung aller Dinge in der Zeit gewiss sind, kann kein Ergebnis, das schon gesehen wird oder noch kommen wird, in ihnen Angst verursachen (H-4.VIII.1:1-3,9 f.)

Und so ruhen wir, gehalten von der Vergebung und Liebe des Heiligen Geistes, in Frieden und sicherer Hoffnung in dem Wissen, dass aus der Asche von Schuld und Hass »Christus … wiedergeboren wurde und dass die Heiligkeit dieser Wiedergeburt ewig währen wird« (B-Ep.5:1).

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